Abschied vom "Leib-Seele-Problem"
Karl Ballmer, Peter Wyssling (Herausgeber), Martin Cuno (Herausgeber)
Finde dieses Buch bei buch7.de | eurobuch.com | buchhandel.de | books.google.com ASIN=393096421X, Category: Philosophy, Language: D, cover: HC, pages: 95, year: 1997.
Wer sind wir, wir sogenannten Anthroposophen (...)? Ein nächstliegendes Mittel, um zu Vorstellungen über unser Wer zu kommen, bestünde darin, daß wir echtes Interesse aufbringen für denkerische Bestrebungen dieser Zeit, die "ebenfalls" den Menschen als ein Geistwesen reklamieren. Je sorgfältiger wir auf solche Ebenfalls-Bemühungen eingehen, desto sicherer werden wir uns des Abgrundes bewußt werden, der uns von mancherlei wohlmeinenden Aspirationen trennt. Damit hätten wir unser "Wer" zunächst in dem Bewußtsein dessen, was uns von Anderem unterscheidet. – Die Welt hat ein gewisses Recht, von den Anthroposophen zu erwarten, daß diese sichtbar werden lassen, wer sie sind. Wir sollten allmählich dazu kommen, uns und der Welt zu beweisen, daß wir überhaupt sind, nämlich daß wir fähig sind, in klaren Gedanken Stellungsbezüge zu vollziehen.
Das "Andere", das Ballmer in diesem Aufsatz aus dem Jahr 1956 wählt, ist die von Heidegger inspirierte Anthropologie, Psychosomatik und Daseinsanalyse. Die "liebende Teilnahme", mit der er sich diesen "Bemühungen" gegenüberstellt, enthebt ihn nicht der Notwendigkeit, den Mythos der Zusammengesetztheit des Menschen aus Leib und Seele einschließlich eines "Verhältnisses" zwischen beiden für Torheit zu halten, mit der der Kirchenvater Aristoteles das Abendland gesegnet hat.
Wir befinden uns im Zeitalter der Naturwissenschaft. Diese Naturwissenschaft, wenn sie redlich und konsequent ist, kann unmöglich das Andenken an ihren Stifter, an Galilei, kränken wollen, indem sie gedankenlos die "Leib-Seele"-Mythologie konserviert. Die Korrektur, die Galilei an der Ansicht des Aristoteles über die Bewegungen der Körperdinge vornahm, muß sich in unserer Korrektur der Ansicht des Aristoteles über die "Leib-Seele"-Komposition der Menschenleute wiederholen. Aristoteles hatte geglaubt, die Dinge bewegten sich nach dem Gesetze des ihneneinwohnenden eigenen Wesens, die leichten strebten ihrem Wesen gemäß nach oben, die schweren wesensgemäß nach unten. Galilei bewies, daß das Reden des Aristoteles vom "Wesen" der Dinge pure Flunkerei war. Die Dinge bewegen sich nach Welt-Gesetzen, und nicht nach eingeborenen eigenen angeblichen "Wesens"-Gesetzen. Ebenso kann es die Seele von Meier und Huber nur als Welt-Gesetz geben ...
Die zweite Auflage (1997) ist durch thematisch dazugehörige Texte aus dem Nachlass ergänzt.
Zu bestellen bei www.edition-lgc.de
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"Viktor von Weizsäcker betrachtet die
(problematische) "Willkürbewegung" eines Fußballers als "biologischen Akt";
Aktor ist das "Lebewesen" Fußballer, dessen Organismus mit den "Fähigkeiten"
der Motilität und Sensibilität ausgestattet sein soll. Das sind für uns ganz
unmögliche Vorstellungen. Wir haben gegen den voreiligen Optimismus solcher
"Biologie" den physikalischen Ernst der Theosophie aufzurufen: Es könnte doch
sein, daß ein bewegter Holzklotz und ein bewegter Fußballer vom
Welt-Gesichtspunkte aus genau das gleiche physikalische Problem darbieten!
[...] Die Zuständigkeit einer "Biologie"
hinsichtlich des Problems bewegter physischer Körper ist ernstlich zu
bestreiten. Die bewegten Fußballer sind ein Physikproblem.
[...] Die Sache ist heikel, aber es soll nun eben Galilei die Ehre
angetan werden. Subjekt der Bewegungen der 22 spritzigen Fußballer
sind natürlich überhaupt nicht die 22 Spieler, sondern ist
in den 22 "Der Mensch" als Selbstbeweger. Den 22 wird die notwendige Illusion
zugute gehalten, sie seien aus Willkür sich Bewegende; in Wahrheit empfangen
sie ihr "Ich" an und aus der Wahrnehmung der weltmäßigen Aktion ihres
Körpers als eines Gegenstandes der Außenwelt.
[...] Das Fußballspiel ist eine Erfindung von Engländern.
[...] und nun stupfen sie auf englisch ihr außen befindliches Ich: den
Fußball. Das ist buchstäblich gemeint."
– Zitat aus Kap. VII (mehr dazu)
Zur anthroposophischen Sicht der Heilkunst im Allgemeinen und Arzt/Patienten-Verhältnis im Besonderen
"Am Inhalt des Begriffes "Mensch" ist die Ungegenständlichkeit das Hauptmerkmal. Das ist eine ungewöhnliche Definition des Menschen. Ich fürchte, daß mit der Ungegenständlichkeit des Menschen Unzuträglichkeiten verbunden sind. Kann es denn den Mediziner geben, der zu bestreiten wagte, daß der Gegenstand der Heilkunst der Menschen-Körper ist. Es verursacht Beschwerden, sich den Blinddarmpatienten auf dem Operationstisch ungegenständlich vorzustellen.
Diese Ungegenständlichkeit des Wesens "Mensch" ist das Mittelpunktgeheimnis der Bossanova*'schen Anthropologie. Ich brauche mir nicht zu verbieten, die Ernsthaftigkeit des von Bossanova gemeinten Problems zu sehen. Auch uns ist die Vorstellung geläufig, daß der Sprechstundenpatient Müller für den Arzt nicht ein klotziger "Gegenstand", sondern eigentlich ein Ich ist. Damit wird aber für uns die Sache sofort schwierig, um nicht zu sagen "brenzlig". Würde nämlich der Arzt mit dem Ich des Patienten sich, den Arzt, meinen; d.h. würde der Arzt in vollem Ernste die Ansicht haben, sein ekstatisch draußen in der Welt befindliches eigenes Arzt-Ich kehre von außen her in ihn ein, dann wäre ein rationaler Sinn bei der Sache. Sobald jedoch der Arzt und Heiler nicht fähig wäre, in der genannten Weise sich "ungegenständlicher" Mensch zu sein, - sobald der Arzt das Ich des Patienten Müller als ein ihm bloß Gegenüberstehendes haben würde, alsobald wäre das Patienten-Ich zum bloßen "Gegenstand" degradiert, und es wäre also nichts mit der "Ungegenständlichkeit", diese wäre nur besonders gut kaschiert."
[...]
"Der Theosoph [KB meint wohl den Antroposophen] darf das Kranksein als in den Dienst der Bewußtseinsentwicklung der Menschen gestellt ansehen. Das Bewußtsein als solches ist Eines. Das Bewußtsein der menschlichen Gattung, die ihre Exemplare ist, ist Eins, - im entschiedenen Widerspruch zu der Behauptung der Psychologie Eduard von Hartmanns, es gebe soviele Bewußtseine als menschliche Individuen. Innerhalb der prinzipiellen Singularität des Bewußtseins ereignet es sich, daß das Bewußtsein des als gegenwärtig gedachten Wesens "Der Mensch", relativ zum gegenwärtigen Bewußtsein der Menschenleute, in fernster Zukunft stattfindet. Das Bewußtsein des Wesens "Der Mensch" ist für sich selbst zeitlose Gegenwart. Die ihr Bewußtsein entwickelnden Menschenleute werden am Ende der Zeit, am Ende und Ziel einer ihnen bevorstehenden Entwicklung, ein Bewußtsein von der Qualität des Bewußtseins des Wesens "Der Mensch" für sich erwarten oder erhoffen können. Wenn diese wartenden und hoffenden Menschen Patienten sind, so haben sie ihr am Ende der Zeit zu gewärtigendes Bewußtsein als das therapeutisch Wirkende und Wirkliche anzusehen. Diese Erkenntnis kann Besitz des gegenwärtigen Therapeuten und Arztes werden.
Das eigentliche Subjekt des Krankseins und mithin der Neurose ist
theosophisch als der Herr des Karma zu bezeichnen.
Dieser Begriff eines überindividuellen Ordnungsprinzips des
Karmas Einzelner - er deckt sich schlecht mit "Vorsehung" - ist eine
spezifische Errungenschaft der Theosophie des Westens. Die östliche
Theosophie kennt wohl den Karmabegriff, aber nicht einen "Herrn des
Karma". Übrigens steht es mit dem östlichen Begriffe des Karma nicht
anders als mit dem griechischen Philosophenbegriffe der "unsterblichen
Seele": beide bringen Träume der ringenden Menschheit zum Ausdruck, die
jetzt durch die Theosophie des Westens zu Realitäten werden wollen. Dem
Osten gilt die Nicht-Wiederverkörperung als Ideal und Ziel. Das Ziel des
Westens, das nicht die Flucht aus der Welt ist, kann kein anderes sein
als die Idee des Gattungsmenschen, der in einem Dasein das
Entwicklungsziel der Exemplare seiner Gattung repräsentiert. Der
Gattungsmensch erfüllt sein Dasein in zeitloser Gegenwart, während die
Exemplare seiner Gattung das Daseinsziel in der Zeit - in vielen
wiederholten Erdenleben - zu erfüllen streben. Das Kranksein als ein
Können der menschlichen Gattung (d.h. "Gottes") ist eine Einrichtung der
Weltleitung im Dienste der Bewußtseinsentwicklung der Menschenleute in
Richtung auf das Ziel des menschlichen Daseins. Bei einer Neurose ist
deren Subjekt der Spannungs-Bezug zwischen dem Patienten und dem ihm
vorgesetzten Ideal der Daseinserfüllung nach dem Muster der
Gattungswesenheit "Der Mensch". Dieser, als der "Herr des Karma", ist
"Ich" in den Dingen der Welt. Die Umwelt eines einzelnen Menschen
besteht aus lauter "Ich"; die Unfähigkeit der Menschen, den "Ich" in den
Dingen der Umwelt zu erkennen, ist ihr Karma. Indem die Menschen die
Idee ergreifen, daß sie sich im alltäglichen Leben in jeder Sekunde als
ihr persönliches Karma von außen entgegentreten, können sie zugleich
anfangen, sich dem Herrn des Karma unterstellt zu wissen, sofern sie
einsehen, daß sie mit ihrem "Ich"-Sagen "eigentlich" ein Können der
menschlichen Gattung gemeint haben wollen."
– Zitat aus Kap. V
*) Bossanova: KB verballhornt hier den Namen des Autors dieses Buches: Einführung in die psychosomatische Medizin von Medard Bossa (1954; gibt es auch in franz. Übersetzung.) Bossanova kommt in KBs Buch 56 mal vor.
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