Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur
Christoph Türcke (Autor)
Finde dieses Buch bei buch7.de | eurobuch.com | buchhandel.de | books.google.com ASIN=3406630448, Category: Philosophy, Language: D, cover: TB, pages: 123, year: 2012.
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Ich habe dieses teilweise auch literarisch interessant geschriebene Buch, — wo findet man sonst noch Sequenzen von Nur-Hauptsätzen? — an einem Tag durchgelesen und war angenehm überrascht darin Parallelen zu einem vollkommen unbekannten, längst vergriffenen Buch "Ursprung und Grenzen der Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" von Ernesto Grassi und Thure von Uexküll [1950] zu finden, - es ist auch literarisch eine Perle! - die sich evtl. nicht sofort an einem einzigen Zitat entdecken lassen, ich füge aber dennoch eines daraus ein:
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"Erst nachdem der Mensch dieses Entsetzt-werden durch die Phantasie erfahren hat und auf ursprüngliche Weise Mensch "geworden" ist (d.h. sich "gebildet" hat, - dies war ja unser ursprüngliches Problem), kann er beginnen, sich menschlich zu verhalten und ein "ethisches" Leben zu verwirklichen. Denn Ethos bedeutet ja, in der neuen Welt die rechte Haltung einzunehmen. Nur einer, der eine solche Bindung in der Phantasie durchgemacht hat, kann auch nach neuen Bindungen, nach dem Grund der Dinge fragen, philosophieren, etwas beweisen und begründen. [...] Der Mensch aber, der die Phantasie verliert, verirrt sich in eine neue Barbarei, denn ausgestossen aus der ursprünglichen Geborgenheit der Natur, ist er nur noch sich selbst überlassen."
Wie man an den polarisierten Rezensionen erkennen kann, wenn ein Philosoph in den eingeräumten Regalen der Naturwissenschafter wildert, von denen einige Exemplare selbst an den von Türcke geschilderten Sympthomen zu leiden scheinen, dann führt das zu einem Aufschrei. Es geht hier um ein gesellschaftsrelevantes Thema, also "wollen Wir noch eine Strecke Weges miteinander machen, bis auch Du vielleicht Mir den Rücken kehrst, weil Ich Dir ins Gesicht lache."
Wie wäre es mit "Die Verbindlichkeit frei gesetzter Intentionen: Entwürfe zu einer Philosophie über den Menschen" von Bernardo J. Gut [1990]?
- "Beobachtung des Denkaktes und Denkwesens, des Ichs, das Abstellen aller sinnlichen Wahrnehmungen, die Beobachtung der Leerheit, warum man dabei müde werden muss(!) und deshalb nicht länger darin verweilen kann (und zu unser eigenen Sicherheit es auch nicht sollte, denn man käme evtl. nicht mehr daraus zurück), was Persönlichkeit ist und woher sie kommt." (aus meinen Lesenotizen zu p175ff Gut [1990])
und jetzt(! <-- Aufmerksamkeitsexklamationszeichen), weil es bei Türcke um die Begriffe von Vorstellung und Wahrnehmung geht, wollen wir in das 19te Jahrhundert zurückschauen. Was lesen wir da ganz bescheiden ausgedrückt?
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"In dem Augenblicke, wo eine Wahrnehmung in meinem Beobachtungshorizonte
auftaucht, betätigt sich durch mich auch das Denken. Ein Glied in meinem
Gedankensysteme, eine bestimmte Intuition, ein Begriff verbindet sich mit der
Wahrnehmung. Wenn dann die Wahrnehmung aus meinem Gesichtskreise verschwindet:
was bleibt zurück? Meine Intuition mit der Beziehung auf die bestimmte Wahrnehmung,
die sich im Momente des Wahrnehmens gebildet hat. Mit welcher Lebhaftigkeit ich
dann später diese Beziehung mir wieder vergegenwärtigen kann, das hängt von der
Art ab, in der mein geistiger und körperlicher Organismus funktioniert. Die
Vorstellung ist nichts anderes als eine auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene
Intuition, ein Begriff, der einmal mit einer Wahrnehmung verknüpft war, und dem
der Bezug auf diese Wahrnehmung geblieben ist."
[-- den Namen des Autors kennt jeder ;)]
und wenn wir damit ausgerüstet in die erste Hälfte des 20ten Jahrhunderts schauen
"Die Unterscheidung und Übereinstimmung von Natur und Menschengeist geschieht als Zeit, nicht in der Zeit, denn Zeit entsteht da, wo Wesen in Erscheinung übergeht. Das erscheinende Wesen ist Zeit, das Wesen selbst ist zeitlos, ewig, aber es ist nicht - wie der gesamte Aristotelismus unterstellt, mit Ausnahme Hegels - unveränderlich, sondern das schöpferische Prinzip der Veränderung selbst."
[-- auch literarisch unschlagbar, daher unbekannter Autor. Wer sagte, es wird einem im Leben alles verziehen, Ruhm, Geld, Macht, nur sein Genie nicht? ;) Und wer sagte: die liberale Bildungswelt entledigt sich solcher Autoren bekanntlich nach der Vogel-Strauß-Methode, - wenn tatsächlich nur letzte Fragemöglichkeiten zum Ausdruck gebracht werden, die sich folgerichtig und unabweisbar aus zweitausend Jahren philosophisch-theologischer Entwicklung ergeben?]
dann sieht man evtl. nicht sofort einen Zusammenhang mit demjenigen, was Türcke anging, als er sein Buch verfasste, aber ich freue mich dennoch, wenn Ihnen dieser kleine Ausflug gefallen hat, womit wir aber noch nicht am Ende wären.
Renatus Ziegler (ich höre schon Ihr Stöhnen, lieber Leser: schon wieder ein Unbekannter - Mathematicus, der morgens neun die Wurzel aus einem Placebo zieht ;)) warnt in "Intuition und Ich-Erfahrung. Erkenntnis und Freiheit zwischen Gegenwart und Ewigkeit", dass die Entfaltung des individuellen Weges blockiert werden könnte, z.B. durch Verhindern des selbständigen Denkens durch Ablenkung; durch Verleugnung der Existenz des Denkens, seiner Tragweite und immanente Begründbarkeit. - Inwieweit wurden diese Blockaden bereits realisiert? Durch wen?